Klassifizierung von hydraulischen Belastungsstufen an Fließgewässern
Im Gegensatz zu einem natürlichen Fließgewässer, das durch eine vom Menschen unberührte Naturlandschaft fließt, sind die Bäche und Flüsse unserer Kulturlandschaft einer Vielzahl von Einflüssen ausgesetzt. Dabei sind wasserbauliche Veränderungen direkt am und im Gewässer zu unterscheiden von Baumaßnahmen, die im Einzugsgebiet durchgeführt werden.
So wird durch unterschiedlichste wasserbauliche Maßnahmen die Geschwindigkeit des abfließenden Wassers entweder verzögert (z. B. Wehre) oder beschleunigt (z. B. Begradigungen). Sowohl eine Verringerung als auch eine Beschleunigung der Abflussgeschwindigkeit wirken sich auf den Geschiebehaushalt des Gewässers aus. In fließberuhigten Abschnitten oberhalb von Wehren ist eine Sedimentation von Schwebstoffen zu beobachten, während Gerinnebegradigungen zu Abflussbeschleunigung und Tiefenerosion mit Geschiebetransport führen.
Die unterschiedlichsten Veränderungen im Einzugsgebiet haben einen großen Einfluss auf die Morphodynamik des Gewässers: Durch Versiegelungen wird dem Fließgewässer vermehrt Oberflächenwasser zugeführt. Hochwasserwellen laufen somit schneller und höher auf als unter naturnahen Verhältnissen. Gleichzeitig verändern die mit dem Oberflächenwasser ins Gewässer zusätzlich eingetragenen Schwebstoffe den Geschiebehaushalt nachhaltig. Schließlich haben die aus verschiedensten diffusen und punktuellen Quellen stammenden Nähr- und Schadstoffe großen Einfluss auf physikalische und chemische Kennwerte des Gewässers.
Für das ingenieurbiologische Arbeiten liegt es nahe, die hydraulische Belastung des Ufers für eine Klassifizierung der Fließgewässer zu nutzen. In diesem Kapitel werden einige Parameter zur Unterscheidung von Belastungsstufen herangezogen, die sich in unserer Beratungspraxis immer wieder als entscheidend für oder gegen eine Sicherungsvariante herausgestellt haben.
Für die Beurteilung der hydraulischen Belastung sind eine Reihe von Standortfaktoren zu analysieren. Zu ihnen gehören unter anderem:
- Abflussregime
- Gerinnegröße
- Fließgeschwindigkeit
- Böschungsneigung
- Böschungssubstrat
- Böschungsfuß
- Bewuchs
- die ans Ufer angrenzende Landnutzung
Um die praktische Handhabbarkeit einer Klassifizierung unter der Vielzahl der Standortfaktoren zu gewährleisten, ist die Beschränkung auf wenige oder einen maßgeblichen Unterscheidungsfaktor notwendig: Für die Klassifikation haben wir die „Fließgeschwindigkeit“ als das herausragende Unterscheidungsmerkmal ausgewählt. Zur weiteren Beschreibung der Belastungssituation werden die Faktoren „Böschungsneigung“, „Böschungsfuß“, „Böschungssubstrat“ und „Böschungsbewuchs“ herangezogen. Auf diese Weise ist innerhalb einer Belastungsklasse (bestimmt durch die Fließgeschwindigkeit) die Charakterisierung eines Uferabschnitts hinsichtlich seiner hydraulischen Belastung aber auch hinsichtlich ingenieurbiologischer Maßnahmen zur Stabilisierung möglich.
Den in der Tabelle genannten Grenzwerten liegt unsere wasserbauliche und ingenieurbiologische Erfahrung zugrunde; sie erheben keinen Anspruch auf wissenschaftliche Korrektheit, sondern dienen als Anhaltspunkte für eine Beurteilung der hydraulischen Belastung eines Ufers. Zwischen allen Klassen gibt es in der Praxis deshalb Übergangsbereiche und zum Teil auch Überschneidungen.
Mit Hilfe dieser Einteilung ist eine erste Einschätzung eines Abbruchufers möglich. Sie ist Ausgangspunkt für eine möglichst umfassende und gewissenhafte Analyse der Standortbedingungen vor Ort. Wichtig ist, für jeden Fall neu den oder die dominierenden Faktoren zu erkennen und zu bewerten. Da in den wenigsten Fällen die Zeit und die Mittel zur Verfügung stehen, aufwendige Messreihen durchzuführen, wird auf grundlegende Berechnungen und Erfahrungswerte zurückgegriffen. Zur Entwicklung eines ingenieurbiologischen Sicherungskonzepts ist die Abschätzung der wirkenden Schleppspannung, die sich aus der Fließgeschwindigkeit ergibt, von großer Bedeutung: Für jedes Substrat existiert eine kritische Grenzschleppspannung, bei deren Überschreitung das Substrat von der Strömung aufgenommen und transportiert wird.
Mit Hilfe der Abschätzung der Schleppspannung für verschiedene Materialien lassen sich den einzelnen Belastungsstufen geeignete ingenieurbiologische Verbauarten zuordnen:
Bislang existieren für den Einsatz ingenieurbiologischer Bauweisen noch keine exakten und allgemeingültigen Grenzwerte und Berechnungsgrundsätze. Deshalb sei noch einmal darauf hingewiesen, dass die Zuordnung auf Grundlage von Erfahrungen aus der ingenieurbiologischen Praxis vorgenommen worden ist. Der Einsatz bestimmter Techniken muss immer am konkreten Einzelfall entschieden werden. Wesentlich für den Erfolg ingenieurbiologischer Maßnahmen sind die Standortbedingungen für die eingesetzten Pflanzen. Hierzu müssen zu den bereits genannten Vorraussetzungen wie ausreichende Lichtverhältnisse auch Faktoren wie Überstauzeiten, Trockenperioden oder auch Bodenverhältnisse berücksichtigt werden. Aus diesem Grunde können die genannten Kriterien nur als grobe Richtschnur gelten.